„Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut ihr ihnen auch.“ (Lukas 6,31)
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Sowas sagt man ja im Volksmund – ein Kinderreim.
Und das Lukasevangelium – hier im Auszug aus der Feldrede – dreht dieses Wort aus dem Negativen ins Positive.
Statt: "Tu dem anderen nicht, was du auch nicht willst, dass andere dir tun."
Heißt es dort: "Handle am anderen so, wie du willst, dass auch die anderen an dir handeln."
Das ist eigentlich ganz einfach, ganz klar.
Eine Art „goldene Regel“ fürs Miteinander.
Wenn wir überlegen, wie wir am anderen handeln sollen, dann überlegen, wie wir es gerne vom anderen erleben würden.
Das ist so weit nicht allzu schwierig zu verstehen.
Vielleicht eine Kleinigkeit noch:
Es geht natürlich nicht darum, dass man berechnend sein soll.
Also nicht: Damit der andere nett zu mir sein wird, bin ich es jetzt zu ihm.
Das würde der Rede eines Jesus Christus doch nicht ganz gerecht.
Denn das würde ja bedeuten, dass man es sich überlegt: Wen brauch ich noch, zu dem bin ich nett?
Und noch etwas:
Es geht ja auch nicht um Selbstverständlichkeiten, also die Höflichkeiten, wo man sich dann streitet, wer wem die Tür aufhält, weil ja jeder zum anderen zuvorkommend sein will. Und um so ein: Schau mal ich bin nett zu dir, nein, aber ich bin dran mit nett sein – und bin nett zu dir. Und so weiter. Also, um all so was geht es nicht.
Sondern so ein Bibelwort hat natürlich eine scharfe, schneidende Seite. Also so eine Seite, wo es wirklich relevant.
Und das ist natürlich auch diejenige Seite, an der wir am leichtesten und häufigsten scheitern.
Stellen wir uns vor:
Jemand hat uns verletzt, unser Vertrauen missbraucht.
Es ist ganz unzweifelhaft: Der andere hat Schuld, und wir sind im Recht.
Oft genug ist das nicht eindeutig, aber in diesem Fall ist es ganz klar.
Das weiß ich. Das weiß der andere.
Also, es gibt keine Zweifel.
Das heißt: Ich habe jetzt ein reiches Sortiment an Sanktionsmöglichkeiten:
Ich kann den anderen zur Rede stellen.
Ich kann ihm mein Vertrauen entziehen, auch meine Freundschaft.
Ich kann es ihn spüren lassen, dass es so nicht geht.
Ich kann ihn auch aus meinem Leben werfen.
Natürlich. Zu all dem hätte ich vielleicht sogar recht.
Also, sagen wir so: Die ungeschriebenen Gesetze des Miteinanders machen sowas möglich und üblich.
Das wäre also, sozusagen gerechtfertigt.
Nun kann es aber sein, dass ehe ich noch reagiere, mir dieses Bibelwort in den Sinn kommt:
„Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut ihr ihnen auch.“
Ich stehe also in einer nicht ganz leichten Entscheidungssituation meinem Mitmenschen gegenüber – und vielleicht habe ich das Glück oder den Segen, dass wir dieses Bibelwort einfällt.
Verändert mich das? Macht das was mit mir?
Lässt mich das irgendwas erkennen, was ich vorher nicht gesehen habe?
Es stellt jedenfalls die Frage:
Wärst du jetzt in der Rolle dieses deines Mitmenschen, wie würdest du wollen, dass man an dir tut?
Darauf sehe ich zwei Antworten:
Erstens: Man lässt ab von seinem Zorn – und wendet sich dem anderen gnädig, verzeihend zu.
Das kann man vielleicht dann besonders gut, wenn man selbst schon mal sowas erlebt hat, dass man Schuld auf sich geladen hatte, dass man wusste, der andere zürnt zurecht, alles, was er sich jetzt einfallen lassen würde, geschieht zurecht. Und er hat uns dann nur in den Arm genommen.
Als habe der, den wir verletzt haben, auch noch Mitgefühl! Mit uns!
Wenn man sowas erlebt, ist es natürlich gut, dieses Gefühl im Herzen zu bewahren und dann wieder herauszuholen, wenn man selbst in der anderen Rolle ist, also, wenn man so vergeben kann, wie es einem selbst gut getan hat.
Aber es gibt auch noch eine zweite Antwort.
Und die ist ein bisschen schwieriger.
Wenn ich etwas falsch mache, freue ich mich natürlich, wenn man mir vergibt.
Einmal. Zweimal. Ja, das tut schon gut. Ganz gewiss.
Aber was ist denn, wenn ich hundertmal etwas falsch mache – und niemand sagt was?
Also, jetzt mal ein Gedankenexperiment:
Stellen Sie sich vor: Jemand ist Pfarrer. Da kann es sein, dass die Gemeindeglieder irgendwelche Fehler bemerken. Aber niemand sagt was. Weil es sich ja nicht schickt.
Also, wenn ich ehrlich bin: Ich habe es natürlich an sich gern, wenn mir jemand verzeiht, mir jemand etwas nachsieht. Aber ich möchte nicht daran denken, dass das dauernd passieren muss, weil ich ständig Fehler mache und niemand etwas sagen will.
Neben: „Ich finde es gut, wenn man mir verzeiht“ kommt ein: „Es ist mir wichtig, in Liebe zurechtgewiesen zu werden.“
Und das gilt übrigens nicht nur für Pfarrer. Viele können sich diese Frage stellen: Hab ich jemanden in meinem Leben, der mir sagen würde: „Du entwickelst dich in eine ungute Richtung. Schau bitte mal sehr kritisch auf dich selbst.“
„Wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut ihr ihnen auch.“
Das bedeutet nicht, dass man einfach nur bis zum Äußersten gutmütig ist.
Sondern, das kann auch bedeuten, dass man Unannehmlichkeiten auf sich nimmt – für den anderen. Ihn in Liebe konfrontiert – das wird er im Moment nicht mögen, aber ich würde es ja auch wollen, wenn es bei mir in eine schlechte Richtung ginge.
Wir sehen: Es ist gar nicht so leicht, zu beantworten, was wir wollen, dass uns die Leute tun.
Vielleicht denken wir zunächst daran, dass man uns einfach vergeben soll, wissen aber insgeheim, dass uns eine andere Reaktion eigentlich besser bekäme.
Wenn wir vergeben, vergeben wir nicht, weil wir uns davon dann später Vorteile erhoffen. Sondern vergeben wir um der Vergebung willen – und aus Liebe.
Wenn wir maßregeln, maßregeln wir nicht, um unseren eigenen Ärger, unseren Zorn loszuwerden, um all das aus uns herauszulenken, sondern tun wir auch das in Liebe.
So wie wir wollen, dass auch die anderen in Liebe an uns handeln, so handeln wir auch in Liebe am anderen.
Das zu verstehen, ist, denke ich, recht leicht.
Das auch zu tun, mag Tag für Tag eine neue Herausforderung sein.
Es kann aber gerade auch in diesen Zeiten, in denen wir mehr in uns gehen können, vielleicht auch eine besondere Chance sein.
Dass es uns möglichst recht oft gelinge, das sei unser Gebet.