Aufnahme von Heimatvertriebenen aus Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg in Leidenhofen

"Näher mein Gott zu dir,

Näher zu dir!

Drückt mich auch Kummer hier,

Drohet man mir,

Soll doch trotz Kreuz und Pein,

Dies meine Losung sein:

Näher mein Gott zu dir,

Näher zu dir!"

Wir schreiben den 11. Mai 1946. Über dem Bahnhof von Ödenburg, einer kleinen ungarischen Stadt an der Grenze zu Österreich, bricht die Nacht herein. Die Situation ist irreal, fast schon gespenstisch. 1323 Menschen, von der Urgroßmutter bis zum neugeborenen Säugling, warten auf ihren Abtransport am nächsten Tag. Man hat sie soeben ihrer Heimat beraubt. Die wenigen zugestandenen Habseligkeiten sind bereits in den Güterwaggons, die auch die Menschen aufnehmen werden, verstaut. Starke Polizeieinheiten bewachen die hilfs- und wehrlosen Vertriebenen wie Schwerverbrecher. Deren einzige Schuld ist, deutscher Abstammung zu sein. Deutschland hat einen Krieg verloren, den sie nicht gewollt haben und für den sie schon schwere Opfer gebracht haben. Warum jetzt auch noch der Verlust der Heimat? Niemand weiß, wohin die Reise gehen und was die Zukunft bringen wird. Was wird mit den respektvoll gepflegten Gräbern der Eltern und Großeltern? Den mühevoll gehegten Häusern, den Höfen, dem Vieh, den Weingärten? Wo und von was künftig leben? Die Leute sind fassungslos und verzweifelt - sie verstehen langsam, dass man ihnen den Boden unter den Füssen weggerissen hat, sie ihre Lebensgrundlage verloren haben. Es gilt Abschied zu nehmen, wahrscheinlich für immer. Irgendjemand stimmt in der Abenddämmerung das Kirchenlied an, das zu einem mächtigen, das gesamte Bahnhofsgelände ausfüllenden Choral erwächst und das keiner der Anwesenden für den Rest seines Lebens vergessen wird.

Es war der Wunsch meiner Tante Susanna Klaus, geb. Pieler, dass dieses Kirchenlied zu ihrer Beerdigung gesungen wird. Es erklang am 14. Mai 2010 in der Kirche zu Leidenhofen.

Warum gerade in Leidenhofen?

Leidenhofen war ihre neue Heimat geworden und das kam so:

Auf Anordnung, bzw. Duldung der Alliierten Kontrollkommission, einer Einrichtung der Siegermächte, mussten nach dem verlorenen 2. Weltkrieg fast alle Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten ihre Heimat verlassen und wurden zwangsweise ins verbliebene Kernland Deutschlands verfrachtet. Susanna Klaus gehörte zusammen mit ihrem Ehemann Johann und der 3-jährigen Tochter Herta zu dem oben angeführten Transport, in dem sich meine beiden Großelternpaare mit ihren fast kompletten Nachkommenschaften befanden. Der Zug verließ am 12. Mai 1946 unter der Bezeichnung "H 0804" Ödenburg, kam am 17. Mai 1946 in Kassel an und wurde am nächsten Tag nach Marburg weitergeleitet. Hier wurde der Transport am 18. Mai 1946 aufgelöst und die Vertriebenen im alten Landkreis Marburg verteilt.

Der Transport bestand aus 48 Waggons: 15 mit Einwohnern aus der Kreisstadt Ödenburg, 23 aus dem Ortsteil Harkau und 10 aus Wolfs (Balf). In jedem Waggon befanden sich ca. 30 Personen, die auf den Begleitpapieren namentlich und mit fortlaufenden Nummern registriert waren. Die Waggons aus der Kreisstadt Ödenburg waren mit ca. 25 Personen nicht ganz so voll gestopft.

In den Ebsdorfergrund wurden von diesem Transport 9 Waggons weitergeleitet. Diese kamen über den Südbahnhof auf der alten Kreisbahntrasse zunächst nach Ronhausen, wo 11 Vertriebene aus Ödenburg ausgeladen wurden. (…)

In Leidenhofen landeten die Insassen der Waggons mit den Nummern 1 und 2 aus Wolfs. Sie wurden mit Pferdefuhrwerken Leidenhofener Landwirte vom Bahnhof in Ebsdorf abgeholt, zum Teil gleich zu ihren zugewiesen Quartieren gebracht oder einfach auf dem Schulhof abgesetzt.

Die Situation war schwierig – für alle.

Auf der einen Seite die Einheimischen, die auch unter der Belastung und den Nachfolgen des Krieges zu leiden hatten. Dazu war die wirtschaftliche Situation schwierig und man verfügte in aller Regel nur über den Wohnraum, der gerade den eigenen Bedarf abdeckte. Und diesen Raum musste man jetzt mit vollkommen fremden Leuten teilen. Zu allem Überfluss waren diese anders gekleidet, sprachen einen seltsamen Dialekt und waren deutlich durch die Strapazen der unfreiwilligen Reise gezeichnet. Man vermutete geflohene ungarische Zigeuner, die jetzt auf Kosten anderer leben wollten und mit denen man am besten nichts zu tun haben sollte. Dazu war die Zeit, in der in Deutschland eine systematische Fremdenfeindlichkeit propagiert worden war und diese beileibe nicht grundsätzlich auf unfruchtbaren Boden fiel, noch allgegenwärtig. So gingen die diffamierenden Begriffe "Zigeuner" und "Kartoffelkäfer" so manchem Einheimischen noch lange leicht über die Lippen, wenn man die Vertriebenen aus Ungarn meinte – aber auch die aus der Tschechoslowakei und die Flüchtlinge aus Ostpreußen, die nicht den Russen zum Opfer fallen wollten, denen später dann eine Rückkehr verwehrt wurde und damit auch den Status von Vertriebenen erhielten.

Auch wenn über Leidenhofen durch den Krieg viel Leid und Entbehrung gekommen war und viele Menschenopfer zu beklagen waren, so hatte man doch eines behalten - die Heimat, die gewohnte Umgebung.

Auf der anderen Seite die Vertriebenen. Sie mussten ihre Heimat verlassen, weil sie Deutsche waren - wurden jetzt aber in Deutschland als unliebsame Fremde angesehen. Auch sie hatten im Krieg Väter, Söhne und Brüder verloren, die für Deutschland ihr Leben ließen. Rund 120 mal war in das kleine Dorf Wolfs die Todesnachricht der deutschen Wehrmacht gekommen: "Gestorben für Führer, Volk und Vaterland". Mit dieser Hypothek und den nachfolgend geschilderten zeitnahen Erlebnissen standen sie nun in Leidenhofen vor dem "Nichts":

Kurz vor dem Ende des Krieges wurden die Wolfser unfreiwillig Zeugen, wie in ihrem Dorf ca. 500 Juden aus Budapest ermordet wurden. Darunter einer der bekanntesten ungarischen Schriftsteller, Antal Szerb. Die Juden waren von der SS dorthin getrieben worden, um zur Abwehr der anrückenden russischen Truppen vollkommen sinnlose Panzergräben auszuheben. Das grausame und menschenverachtende Vorgehen der SS hat die Dorfbewohner tief erschüttert und die zweifellos auch vorhandenen Anhänger des Nationalsozialismus zum Nachdenken gebracht. Das Leid der Juden war unbeschreiblich, willkürliche Exekutionen waren an der Tagesordnung – Menschenleben anscheinend ohne jeglichen Wert. Einige Wolfser riskierten ihr eigenes Leben, weil sie Juden mit Lebensmitteln und Kleidung versorgten und Einzelne gar auf ihren Anwesen versteckten. Die letzten überlebenden 30 - 40 Juden wurden unmittelbar vor den anrückenden russischen Truppen am Rand des Panzergrabens aufgestellt und erschossen. Die Wolfser waren sich sicher: Die Deutschen in ihrer Allgemeinheit werden für diese Verbrechen noch schwer bezahlen müssen.

Bereits am nächsten Tag waren die Russen da. Der Schrecken, der ihnen voraus eilte, stellte sich ein. Gefangene wurden nicht gemacht - alle fremden Uniformträger sofort erschossen und an Ort und Stelle liegen gelassen. Über das, was Frauen und Mädchen zu ertragen hatten, wird meist geschwiegen. Russische Soldaten durchsuchten systematisch die Häuser und machten kein Geheimnis daraus, was sie zu finden erhofften: Alkohol und junge Frauen ... genau in dieser Reihenfolge. Einige Wolfser konnten dies nicht ertragen und wählten den Freitod. Nach dem offiziellen Kriegsende wurde es deutlich humaner.

Als man nun aber dachte, das Schlimmste sei vorbei, kam nur ein Jahr nach dem Kriegsende die Vertreibung …



Auszüge aus einem Manuskript von Karl Hauer (Wolfs)

Der gesamte Text und die Fortsetzung kann im Internet unter

http://www.steinerlh.de/WolfserInLeidenhofen.doc eingesehen werden