Die ungeplante Reformation

Martin Luther hatte die Reformation nicht geplant, dennoch veränderte sie Europa grundlegend. Die Ideen aus Wittenberg kamen genau zum richtigen Zeitpunkt in die Welt. Die Reformation fiel in eine Zeit voller Veränderungen. Kirche, Politik, Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft befanden sich in Wandlungsprozessen. Das Weltbild der Menschen änderte sich fundamental. Zuerst der Gebildeten, dann der einfachen Menschen. 1492 entdeckte Christoph Kolumbus einen bisher unbekannten Kontinent. Genau vor fünfhundert Jahren, von 1519 bis 1522 umsegelte Ferdinand Magellan erstmals die Welt. Der erste praktische Beweis, dass die Welt rund ist. Der Domherr und Wissenschaftler Nikolaus Kopernikus veröffentlichte 1543 eine Schrift, in der er seine Erkenntnisse zusammenfasste: Die Erde dreht sich um selbst und um die Sonne.

Das Geldwesen entwickelte sich rasant in Süddeutschland, Handelsstädte wie Augsburg, Ulm und Nürnberg boomten. Mit dem Erscheinen des Buchdruckes entstanden neue Medien, wie Flugschriften und Vorformen der heutigen Zeitungen. Mensch und Natur wurden von Künstlern realitätsnah dargestellt.

Doch manche Veränderungen machten auch Angst. Die Türken eroberten 1453 Konstantinopel, das östliche Rom und rückten weiter nach Westen vor. Die Bevölkerung um 1500 wuchs, dadurch stiegen die Preise der Lebensmittel, das Ackerland wurde knapp, viele Familien gerieten in Not.

Luther war auch ziemlich sicher, dass das Ende der Zeiten nahte. Zahlreiche Astronomen spekulierten wegen einer Planetenkonstellation auf ein Weltende im Februar 1524.

Am 31. Oktober 1517 geht der rebellische Mönch Martin Luther zur Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Er greift zum Hammer und nagelt seine 95 Thesen fest. Eine Anklage gegen die römische Kirche – und die Geburtsurkunde eines neuen Glaubens. Ob Luther seine Thesen wirklich festnagelt hat, weiß man genau nicht. Das berühmte Szenario kennen wir von Philipp Melanchthon. Im Vorwort der gesammelten Werke Luthers schrieb er 1546: Der Reformator habe seine Ablassthesen öffentlich an der Kirche, die mit dem Wittenberger Schloss verbunden ist, am Vortag des Festes Allerheiligen 1517 angeschlagen.“ Melanchthon war aber kein Augenzeuge, er kam erst 1518 nach Wittenberg.

Luthers Sekretär Georg Rörer, der auch kein Zeuge war, notierte am Ende in einem Exemplar des Neuen Testaments: Im Jahr 1517 am Vorabend von Allerheiligen sind in Wittenberg an den Türen der Kirchen die Thesen über den Ablass von Doktor Martin Luther vorgestellt worden.“ Demnach wurde das Plakat in mehreren Orten in Wittenberg veröffentlicht. Gemäß den Statuten der Theologischen Fakultät war es vorgeschrieben, dass die Aufforderungen zu einer akademischen Disputation an Wittenberger Kirchentüren anzubringen sei. Es wurde auch geregelt, wer die Plakate anbringen soll: der Pedell, also der Hausmeister der Universität. Kirchentüren spielten damals die Rolle der Informationstafeln. Vielleicht ist das der Grund, warum Luther nie über den Thesenanschlag sprach. Der Pedell hat diese Arbeit für ihn erledigt.

Die Thesen verbreiteten sich schnell in Europa. So sind sie ganz früh auch in unserer Stadt, in Sopron/Ödenburg angekommen. Das Bürgertum lernte hauptsächlich durch die deutschen Handelsbeziehungen und die Vermittlerrolle in der Kultur die Lehren der Reformation kennen. Der Franziskanermönch Christoph predigte schon ab 1520 im Geiste lutherischer Lehren. Vier Jahre später entsandte König Ludwig II. nach Anzeige des Pfarrers Christoph Peck eine königliche Untersuchungskommission in die Stadt. Vier Pfarrer wurden von der Kommission der Verbreitung ketzerischer Lehren angeklagt. Als Strafe wurde ihnen auferlegt, sich in ihren Sonntagspredigten gegen Luther zu äußern. Im Ödenburger Dechanat wurden von den Pfarrern die Bücher Luthers eingesammelt, anschließend verbrannt, das heißt die Reformation hat sich nicht nur in Ödenburg, sondern auch auf dem Land verbreitet. Bis zum Ende des 16. Jahrhundert konvertierte der große Teil der Bevölkerung samt Ödenburger Stadträten allmählich, friedlich zum neuen Glauben.

Der 31. Oktober 1517 veränderte unsere Welt bis heute. Luther aber plante damals nichts Neues, keinen Umsturz. Im Gegenteil, er wollte zurück zu den Wurzeln. Er selbst hätte nicht gedacht, dass wir uns 502 Jahre später noch an ihn erinnern würden. Nach seiner Überzeugung hätte die Welt längst untergegangen sein müssen.

Dr. András Krisch

 

Verwendete Literatur:

András Krisch/Mariann Szlavkovszky-Tóth: Die Jahrhunderte der Ödenburger Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde. Ausstellungskatalog. Sopron 2017.

Dietmar Pieper: Der stille Urknall, in: Der Spiegel Geschichte 6/2015, 35.

Eva-Maria Schnurr: Zurück in die Zukunft, in: Der Spiegel Geschichte 6/2015, 14–17.

Berthold Steinhilber: Martin Luther. Wer weiß, ob es wahr ist?, in: Geo 11/2007, 177–200.